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  Die kleine Nymphe und das Element Wasser
14.07.2013 von Herbertron

Seit Anbeginn unserer Zeit lebt die kleine Nymphe Kajetana an der Quelle der überfließenden Gefühle. Ihr Alltag plätschert ruhig dahin und ihr Herz ist heil. Gelegentlich kommen Menschen vorbei, um sich am Wasser der köstlichen Quelle zu laben. Diese willkommene Abwechslung bereitet der Nymphe viel Vergnügen, denn sie liebt es, die Sterblichen zu necken. Mit ihrem kindlichen Gemüt ist sie immer für einen Schabernack zu haben, und sie ergießt ihre reinen Gefühle in die Tiefen der kostbaren Tropfen Es ist ein lichter, friedlicher Morgen.
Die ersten Frühlingsblumen recken ihre Blüten gierig in die warmen Sonnenstrahlen, als aus der Ferne Menschenstimmen an Kajetanas Ohr dringen. Sie ist heute besonders frohgemut. Deshalb schwingt sie sich keck mitten auf den großen Wasserstrahl ihrer Quelle und freut sich diebisch auf die Dinge, die da kommen. Die Menschen, ein großer grauhaariger Mann und eine etwas kleinere blonde Frau, haben die Quelle erreicht und das Schicksal nimmt sogleich seinen erbarmungslosen Lauf. Die beiden brauchen frisches Quellwasser für ihren Seerosenkübel. Als der Mann den Eimer unter den Wasserstrahl hält, wird Kajetana übermütig. Sie möchte ihn necken und kräftig Nassspritzen. Dabei gerät sie ins Rutschen und schwups, landet sie in dem bauchigen Gefäß. Im Nu ist der Behälter voll, der Deckel drauf und die Nymphe ist gefangen. Da hilft kein Jammern und kein Wehklagen, denn die Menschen befinden sich schon wieder auf dem Weg nach Hause. Kajetana wird fürchterlich hin und her geschüttelt und ein dumpfes Brummen benebelt ihren Kopf. Bebend vor Angst erfleht sie die Ohnmacht. Die Fahrt zurück in die Stadt ist weit. Als der Deckel nach endlos langer Zeit abgenommen wird, muss sich das arme Ding die Ohren zuhalten, denn solch einen Höllenlärm hat sie in ihrem ganzen Leben noch nicht gehört. Alle Geräusche klingen fremd und bedrohlich. Sehr unsanft kippt man sie in einen großen Holzkübel, der hoch oben auf einem zugigen Balkon steht. Da sitzt sie nun, beengt, einsam und mutterseelenallein. Bis heute kannte sie Trauer, Angst und Hoffnungslosigkeit nur von den Erzählungen der Menschen, die sie immer an ihrer Quelle belauscht hatte. Jetzt haben diese Gefühle Gestalt angenommen.
Eine Woche ist bereits vergangen und sie sitzt, angefüllt mit der Einsamkeit der verflossenen Tage, noch immer in dem grässlichen Topf. Sie verzehrt sich vor Sehnsucht nach der Ursprünglichkeit ihres früheren Daseins und Heimweh zerschneidet ihr Herz. Die milde Frühlingsluft macht bereits der Sommerhitze Platz, als sich ihr Schicksal unerwartet wendet. Die blonde Frau hat eine kleine weiße Seerose gekauft und pflanzt sie in den Zuber. "Hurra", schreit Kajetana hoffnungsfroh, die Einsamkeit ist beendet und das Leben wird wieder erträglich. Die Seerose ist kein Kind von Traurigkeit und erzählt den lieben langen Tag die tollsten Geschichten. Kajetana ist glücklich. Der Sommer ergießt sich bereits in seinen letzten goldenen Strahlen, und die beiden Schicksalsgefährtinnen sind unzertrennlich.
Die ersten Nachtfröste kündigen den bevorstehenden Herbst an. Und der, für die wärme liebende Seerose zu kühle Ostwind, lässt die Gefangenen frösteln. Nach ein paar sternenklaren Nächten erkrankt die arme Pflanze schwer. Keiner der verantwortungslosen Menschen lässt sich nun mehr auf dem eisigen Balkon blicken. Es ist ihnen offenbar egal, was mit der bedauernswerten Blume geschieht. Sie sitzen in ihrem mollig warmen Wohnzimmer am knisternden Kamin und freuen sich auf die ersten Schneeflocken. Kajetana pflegt ihre Freundin aufopferungsvoll und so gut sie kann, doch ihre Bemühungen sind vergeblich. In einer frostigen Nacht, der Mond steht voll und rund am Himmel, erfriert die einst so schöne Seerose jämmerlich. Die Nixe schreit in ihrer großen Verzweiflung um Hilfe, aber niemand kann ihr Wehklagen hören. Keine Menschenseele hat Erbarmen, als ihr das Liebste aus dem Herzen gerissen wird. Ihr Schmerz ist unermesslich und die Unglückliche träumt sich zurück an ihre Quelle, fernab der Welt und ihrer grausamen Wirklichkeit. Sie möchte sterben. Doch was ist jetzt los? Der rohe Kerl trägt den Kübel schleppenden Schrittes in die Wohnung. Kajetana wird gerüttelt und geschüttelt, schlägt mehrmals schmerzhaft mit dem Kopf an und plumpst sehr unsanft in ein weißes Keramikbecken. Sie hört nur noch das bedrohliche Rauschen der Toilettenspülung. Was ab jetzt mit der Quellennymphe geschieht, ist unbeschreiblich. Sie überwindet unglaubliche Körperqualen, einen bestialisch übel riechenden Gestank und beängstigende Dunkelheit. Warum kann sie nicht einfach verlöschen, so wie ein fallender Stern?
Doch das Blatt wendet sich erneut. Ihre endlose Odyssee durch die Abwässerkanäle und Kläranlage einer Großstadt, führt sie direkt in einen murmelnden Bach, der in lässigen Windungen zum Ozean strebt. Ihre Schmerzdurchdrungenen Gebete wurden endlich erhört und Kajetana reist über Bäche und Flüsse, direkt ins verborgene Reich der Meerestiefe. Überwältigt und geborgen vom Ur-Rhythmus des großen Gewässers, kehrt ihr Lebensmut zurück. Beim Spiel mit den Meeresbewohnern vergisst sie das bedrückende Gestern. Nur ganz selten und insgeheim entsinnt sie sich an ihren Ursprungsort, an die Quelle der überfließenden Gefühle. Aber die Hoffnung, jemals wieder dorthin zurückzukehren, hat sie längst begraben. Als sich Kajetana einmal wieder verlangend an ihre Heimat entsinnt, wird sie wohlmeinend von einer uralten Meeresschildkröte berührt. Das gepanzerte Wesen ist geistesmächtig und hat ein weiches Herz. Sie fühlt das Leid des gequälten Wassergeistes. "Sei nicht mehr traurig, ich weiß den Weg zurück zu deiner Quelle. Setze dich auf meinen Rücken, ich bringe dich heim", flüstert sie in Kajetanas Ohr. Und so geschieht es.
Viele Sommer sind seitdem vergangen. Kajetana lebt nun wieder glücklich und zufrieden an ihrem Born. Dem Anschein nach ist alles wie früher, doch ihr Daseinskampf hat sie verwandelt. Kein Sterblicher wurde ihr je wieder gewahr.


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